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DIE SCHUHFABRIK

Elf Stunden Fronarbeit

1882, nur acht Jahre nach der Gründung, zieht die «Anstalt zur Heimat», wie das Landheim damals heisst, von Brüttisellen weg. Die Zöglinge wohnen jetzt im ehemaligen Gasthof «Schwanen» in Baltenswil, zur Arbeit müssen sie aber weiterhin nach Brüttisellen in die Schuhfabrik. Mit der Schuhproduktion sollen sie ihren Aufenthalt im Heim erwirtschaften, was sich allerdings als schwieriger erweist als gedacht.

 

Einer der 75 Burschen ist Eduard Kündig aus Wila (ZH). Er tritt am 21. Mai 1886 in die Anstalt ein. Auf das Arbeits- und Erziehungsprogramm, das ihn erwartet, würde sich kein heutiger Jugendlicher einlassen.

1886

Die Schuhfabrik in Brüttisellen

Die Schuhfabrik in Brüttisellen: Hier arbeiten die Zöglinge an sechs Tagen pro Woche in der Schuhproduktion.

Der «Schwanen» in Baltenswil: Hier leben die rund 75 jungen Männer seit dem Umzug aus Brüttisellen im Jahr 1882.

Was kommt auf Edi Kündig zu?

Im Mai 1886 tritt der 14-jährige Eduard Kündig aus Wila in die «Knabenanstalt zur Heimat» ein. Hör dir seine Geschichte an!

In der Schuhfabrik
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Der Hausvater Theodor Zollinger

Das Zöglingsbuch

mit Eduard Kündig (unten links)

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Hausordnung
für die
«Arbeitsanstalt Brüttisellen»

  • Morgens 5 Uhr: Aufstehen, Ankleiden, Waschen, Ordnen der Betten und Schlafsäle.

  • ½6 Uhr: Frühstück: Kaffee mit Milch und Brot; Morgenandacht.

  • 6 Uhr: Beginn der Arbeit in der Fabrik. Tägliche Arbeitszeit: 11 Stunden für diejenigen, welche das 14. Altersjahr zurückgelegt haben, 7 Stunden für die Jüngeren. Vor Sonn- und Festtagen wird eine Stunde früher geschlossen.

  • 9 Uhr: Zwischenbrot mit ¼ Stunde Pause.

  • Mittags 12 Uhr: Mittagessen: Tischgebet, Suppe, Gemüse, Kartoffeln, Reis, Mais, regelmässig ein Glas Most oder Wein, zwei Mal wöchentlich Fleisch.

  • Nachmittags 1 Uhr: Wiederbeginn der Arbeit in der Fabrik.

  • 4 Uhr: Abendbrot mit ¼ Stunde Pause.

  • Abends ½7 Uhr: Schluss der Arbeit.

  • Während der Arbeit in der Fabrik stehen die Knaben unter Aufsicht und Leitung tüchtiger Meister und sollen zu Fleiss, Sorgfalt und Ordentlichkeit angehalten werden. Schwatzen ist nicht zu dulden.

  • Abends 7-8 Uhr: Abwechselnd nach Umständen freie Erholung, Turnen, Aushilfe für Haus- oder Landwirtschaft, Gartenarbeit etc.

  • 8 Uhr: Nachtessen; Tischgebet; nahrhafte Suppe und Brot.

  • Nachher: Lesen, Schreiben, Singen, Vorbereitung für Kirche und Schule, Fortbildungsunterricht.

  • 9 Uhr: Abendandacht und Schlafengehen. In den Schlafsälen wird anständiges und ruhiges Betragen gefordert. Die Aufsicht wird vom Hilfspersonal geführt.

  • Es muss dafür gesorgt werden, dass die Knaben täglich eine Stunde in freier Luft zubringen.

  • Abwechselnd leistet eine Anzahl derselben Mithilfe bei den Hausgeschäften, sowie den Land- und Gartenarbeiten.

  • Religions- und Ergänzungsschul-Unterricht geniessen die Zöglinge durch den Geistlichen des Orts und durch die Lehrkräfte der Anstalt. Der obligatorische Gesangsunterricht dagegen wird vom Hausvater erteilt, welcher auch gemeinsam mit dem Hilfslehrer den Fortbildungs- und Turnunterricht leitet.

  • Sonntags: Vor- und nachmittags Besuch des Gottesdienstes. Gesangsstunde. Spaziergänge, Turnen, Fortbildungsunterricht je nach Witterung und Jahreszeit.

 

Die «industriellen Heime» von Caspar Appenzeller

«Womit die Zöglinge beschäftigen?», stand als Frage ganz am Anfang. Die Wahl der Arbeit fiel – vielleicht ein bisschen zufällig – auf die Schuhmacherei. Caspar Appenzeller war von einem Besuch der Schuhfabrik Bally in Schönenwerd so beeindruckt, dass er fand, Schuhe herstellen sei für junge Burschen die richtige Tätigkeit. In Tat und Wahrheit verstand in der «Knabenanstalt zur Heimat» aber niemand etwas vom Schusterhandwerk. Für das Anlernen der jugendlichen Zöglinge holte man einen Meister von einer Schuhfabrik in Aarburg.

Viele der Burschen hatten aber weder Lust auf Arbeit noch auf Gehorsam. Die Meister und Aufseher in der Fabrik taugten zudem oft überhaupt nicht für die Erziehung und waren dem Vernehmen nach heillos überfordert. Entsprechend blieben sie meist nicht lange. Auch die Zöglinge blieben nicht alle. Immer wieder kam es vor, dass einer entwich. Mehrmals kam es sogar zu einer Art Gruppenstreik, indem sich die Jugendlichen koordiniert in alle Himmelsrichtungen verliefen, statt ordnungsgemäss zur Arbeit zu erscheinen. Der Hunger soll die Mehrzahl von ihnen dann wieder zurückgetrieben haben.

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Die Schuhfabrik in Brüttisellen: Nach dem Grossbrand von 1878 wird der ehemalige Gasthof um ein Stockwerk erhöht. Auf der Strasse die Zöglinge der Anstalt.

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Annagut in Tagelswangen

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Fabrikanstalt in Wangen

Wohltätigkeit oder Ausbeutung?

Die Absicht des Gründers Caspar Appenzeller war es, durch die Arbeit der Jugendlichen die Betriebskosten der Anstalt zu erwirtschaften. «Industrielles Heim» nennt sich dieses Konzept. Caspar Appenzeller hat mehrere davon gegründet, neben der «Knabenanstalt» auch zwei Institutionen für Mädchen in Tagelswangen und Wangen.

 

Bloss: Funktioniert hat das System nie richtig. Zu gering die Mengen, zu schwankend die Qualität der hergestellten Waren. Die Geschichtsschreibung ist sich übrigens nicht einig bei der Bewertung solcher Heime. «Ausbeutung» und «Kinderarbeit» sagen die einen angesichts von elf Stunden Zwangsarbeit ohne Lohn. «Wohltätigkeit» und «Erziehung» sagen die anderen, in dem Sinne, als dass die Burschen aus bedürftigen Familien überhaupt etwas hatten, statt auf der Strasse zu stehen. Sicher ist, dass man solche Einrichtungen und ihre Konzepte im Kontext der damaligen Zeit sehen muss. Armut und Kinderarbeit waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet und wurden quasi als gegeben hingenommen.

Und die Schuhfabrik?

Weil man mit der Arbeit der Zöglinge alleine nicht sinnvoll und konstant produzieren konnte, wurden in der Schuhfabrik nach und nach immer mehr zusätzliche externe Arbeitskräfte eingestellt. So steigerte sich die Produktion und die Schuhfabrik entwickelte sich bald zusehends unabhängig von der Anstalt. Zwar gab es bis 1930 eine Abteilung, in der die Zöglinge zu Werke gingen, diese spielte aber eine immer kleinere Rolle für den Produktionsbetrieb. Unter dem Namen «Walder & Companie» wuchs die Fabrik zu ansehnlicher Grösse und in der Blütezeit verliessen täglich 2000 Paar Schuhe die Produktionshallen in Brüttisellen. Die starke Verbindung zwischen dem Landheim und dem Unternehmen «Walder» blieb indes bis heute bestehen. Nachfahren von Caspar Appenzeller und seinem Schwiegersohn Heinrich Walder gehören noch immer dem Stiftungsrat der Caspar Appenzeller-Stiftung an, die das Landheim trägt.

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Der Briefkopf der Anstalt-Schuhfabrik Brüttisellen: Nach dem Grossbrand von 1878 wird der ehemalige Gasthof um ein Stockwerk erhöht. Auf der Strasse die Zöglinge der Anstalt.

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Gemeinsamer Ursprung

Das Landheim Brüttisellen und die Firma Walder sind beide direkt aus der «Knabenanstalt zur Heimat» hervorgegangen. Was heisst, dass beide 2024 ihr 150-jähriges Jubiläum feiern! Die Walder-Eigenmarkte «1874» verweist auf die lange Firmentradition und das Gründungsjahr der Anstalt mit der Schuhfabrik.

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